Die WOCHE 48/2001

WOCHE-Schwerpunkt (Die WOCHE 30.11.2001)

Wenn Köpfe heiß geredet werden

Die einen halten sie für Krebs erregend, die anderen für vollkommen harmlos – um die tatsächlichen Auswirkungen von HANDY-STRAHLUNG wird eine erbitterte wissenschaftliche Kontroverse ausgetragen

 

VON JENS UEHLECKE

Rushhour in Hamburg. In einem prall gefüllten Bus liefern sich eine ältere Frau und ein Jugendlicher ein Wortgefecht. Sie: „Mach sofort das Handy aus, ich bekomm davon Kopf- und Nervenschmerzen.“ Er: „Totaler Quatsch, das tut Ihnen doch nichts.“ Der Frau stehen Panik und Wut über die Ignoranz ins Gesicht geschrieben. Sie brüllt um Hilfe: „Helfen Sie mir, das geht doch so nicht. Der Bengel ruiniert mir die Gesundheit.“ Die anderen Fahrgäste ignorieren sie, zucken allenfalls mit den Achseln. Die Frau lamentiert noch eine Weile lautstark und steigt schließlich aus dem Bus.

 

Eine Episode, die den jahrelangen Streit über die Gefahren von Mobilfunkstrahlen kaum besser auf den Punkt bringen könnte. Eine scheinbar unendliche Geschichte, bei der sich Mobilfunkindustrie und Kritiker, Spaß-Gesellschaft und Skeptiker gegenüberstehen. In Deutschland gibt es derzeit rund 40 000 Mobilfunkmasten, gut 60 Millionen Handys und Hunderte Bürgerinitiativen, die der Handy-Industrie das Leben schwer machen. Immer wieder haben beide Seiten in der Vergangenheit neue Studien und Expertisen präsentiert, die die Schädlichkeit des durch Mobiltelefone verursachten Elektrosmogs belegen oder widerlegen. Doch bislang scheint nur eines sicher zu sein – dass nichts sicher ist.

 

Unbestritten ist, dass Handys und Mobilfunkanlagen hochfrequente, elektromagnetische Felder erzeugen. Bei dem in Europa üblichen GSM-Standard in den D- und E-Netzen handelt es sich um so genannte gepulste Strahlung. Das heißt, dass die Gespräche nicht analog am Stück übertragen, sondern digitalisiert und in kleinen Wortfetzen übermittelt werden. 217-mal pro Sekunde ändert sich dabei das elektromagnetische Feld.

 

Diese Art der Strahlung sei besonders gefährlich, argumentieren Kritiker, weil sie Zellen in Schwingungen versetzen und damit deren Stoffwechsel wie auch die Kommunikation mit anderen Zellen aus dem Gleichgewicht brächten. „Das ist eine aus der Physik hergeleitete Hypothese“, sagt Jiri Silny vom Forschungszentrum für Elektro-Magnetische Umweltverträglichkeit (FEMU) an der RWTH Aachen. „In der Praxis haben Wissenschaftler bislang keine Hinweise darauf gefunden.“

 

Allerdings sorgen Forscher in aller Welt immer wieder für Furore, weil sie auf Anhaltspunkte für eine Gesundheitsgefährdung durch Mobilfunkstrahlen stoßen. So hat eine schwedische Gruppe zum Beispiel in Tierversuchen festgestellt, dass die natürliche Blut-Hirn-Schranke – eine Gewebebarriere zwischen dem Blutkreislauf und dem Gehirn, die etwa das Eindringen von Krankheitserregern ins Hirn verhindert – bereits unter dem Einfluss relativ schwacher elektromagnetischer Felder durchlässig wird. Womöglich könnten toxische Substanzen so leichter ins Hirn gelangen.

 

Schon länger haben Wissenschaftler den Verdacht, dass die körpereigene Produktion des Zellschutz-Hormons Melatonin durch Strahlung gedrosselt werden könnte. Fehlt Melatonin, können besonders reaktionsfreudige Moleküle Zellwucherungen verursachen – das Krebsrisiko steigt erheblich. Ein Mainzer Forschungsteam hat darüber hinaus beobachtet, dass Handystrahlen das Schlafverhalten von Menschen beeinflussen. Zum einen schliefen Probanden unter dem Einfluss von elektromagnetischen Feldern schneller ein als die Kontrollgruppe, zum anderen verkürzte sich ihre Traumphase erheblich. Schließlich wollen Wissenschaftler verschiedener Länder Anhaltspunkte dafür entdeckt haben, dass Mobilfunkstrahlen die Erbsubstanz schädigen. Das hätten Untersuchungen sowohl an Zellen im Reagenzglas als auch an Menschen ergeben, die an ihrem Arbeitsplatz höheren Strahlendosen ausgesetzt sind.

 

Handyhersteller, Netzbetreiber und weniger skeptische Wissenschaftler argumentieren dagegen, dass all diese Befunde bislang nicht durch andere Studien bestätigt werden konnten und deshalb keine Beweiskraft hätten. „Mittlerweile sind Hunderte von Untersuchungen gemacht worden, eine Gesundheitsschädigung konnte dabei nicht eindeutig nachgewiesen werden“, sagt Jiri Silny. Daher gebe es auch keinen Handlungsbedarf, die derzeit in Deutschland vorgeschriebenen Grenzwerte zu senken. „Wenn Politiker meinen, sie müssten das tun, weil in der Bevölkerung zunehmend Angst herrscht und die nächsten Wahlen vor der Tür stehen, dann sollen sie das bitte nicht auf die Wissenschaft abwälzen.“

 

Das sieht das Ecolog-Institut aus Hannover, auf dessen Arbeit sich auch die Grünen beziehen, anders. In der Vergleichsstudie „Mobilfunk und Gesundheit“ kommt es zu dem Ergebnis, dass schon der begründete Verdacht ausreichen müsse, entsprechende Vorsorgemaßnahmen zu treffen. Eine Reihe von Untersuchungen lassen eine krebsfördernde Wirkung, Schädigungen der Erbsubstanz und eine Beeinträchtigung von Gehirnfunktionen „zumindest wahrscheinlich erscheinen“. Das Institut schlägt deshalb vor, die im derzeit geltenden Bundesimmissionsschutzgesetz festgelegten Grenzwerte für elektrische Feldstärken um den Faktor 20 bis 30 zu senken.

 

Ganz untätig ist allerdings auch die Handy-Industrie nicht. Einer neuen EU-Norm folgend geben die großen Hersteller, darunter Nokia, Motorola und Siemens, seit Oktober bei fabrikneuen Handys den jeweiligen SAR-Wert („spezifische Absorptionsrate“, siehe unten) an. Der besagt, wie viel Energie ein Kilogramm Körpergewebe über einen bestimmten Zeitraum ausgesetzt ist. Kritiker bemängeln, dass diese unter Laborbedingungen errechnete Zahl nur wenig aussagekräftig ist. Erstens, weil zu viele Umgebungsbedingungen wie etwa die Reichweite des untersuchten Handys nicht einbezogen würden, und zweitens, weil nur die Erwärmungswirkung der elektromagnetischen Felder gemessen werde. Diese sind aber wohl zu vernachlässigen. „Wir konnten lediglich Erwärmungen um wenige Zehntel Grad nachweisen“, sagt Jiri Silny. „Das sind Veränderungen, die der Körper ohne weiteres aushält.“ Aber auch wenn der SAR-Wert etwas aussagen würde, der Kunde könnte sich beim Kauf kaum daran orientieren. Denn dieser wird – nicht sehr kundenfreundlich – nicht außen auf die Packung des neuen Gerätes, sondern in die Bedienungsanleitung gedruckt.

 

Die Frage, ob und wie Handybenutzer sich schützen müssen, ist also nach wie vor umstritten. Eine Langzeit-Studie der Weltgesundheitsorganisation, die 6000 Tumorpatienten in 13 Ländern befragt, wird frühestens 2003 Aufschluss geben. Vorerst bleibt nur ein Rat: „Wer sich Sorgen macht, sollte Freisprecheinrichtungen benutzen, so dass das Handy beim Telefonieren möglichst weit vom Körper entfernt ist“, sagt Jiri Silny. „Das Sicherste ist: Möglichst wenig mit dem Handy telefonieren.“

 

Kasten: BETROFFENE

 

Kasten: Störfunk fürs Immunsystem

 

Kasten: Migräne, Schlaflosigkeit, Ohrensausen – eine Familie im Bayerischen Wald glaubt, dass die Strahlung aus Handymasten sie krank gemacht hat

 

Kasten: Wenn die zehnjährige Anna* Kopfschmerzen bekommt, hilft nur eins: Ihre Mutter muss sie in einen Raum mit möglichst dicken Mauern bringen. „Am besten ist der Keller“, sagt Martina Steiger*. „Dort kann ich Anna vor den Mobilfunkstrahlen abschotten.“ Denn für die häufigen Migräneattacken ihrer Tochter, so glaubt sie, ist der Elektrosmog verantwortlich, den Mobilfunkmasten und Handys verursachen.

 

Kasten: Grund für die Vermutung: Der erste Kopfschmerz-Schub Annas im vergangenen Sommer kam wenige Wochen, nachdem Martina Steiger mit ihrer Tochter in ihr Elternhaus im Bayerischen Wald zurückgezogen war. Und das steht nur 75 Meter von einem Sendemast des D2-Netzes entfernt. Seitdem plagen Anna regelmäßig ein- bis dreitägige Migräneanfälle. Ein weiteres Indiz: Das Pochen im Kopf kommt vor allem dann, wenn das Kind nicht nur dem Dauer-Elektrosmog der Antenne ausgesetzt ist, sondern zusätzlich auch noch Mobiltelefone in unmittelbarer Nähe sind.

 

Kasten: Zahlreiche Arztbesuche gaben keinen Aufschluss über mögliche organische Ursachen von Annas Leiden. Ein Neurologe schließlich fand bei einer Untersuchung mittels EEG auffällige Ausschläge in den Hirnströmen der Zehnjährigen. Ein Befund, der in den Augen von Annas Mutter ein klarer Beleg für einen Zusammenhang zwischen den Migräne-Anfällen und dem D2-Sender ist. Ihre Vermutung stützt auch eine Studie des Lübecker Medizinphysikers Leberecht von Klitzing, der mutmaßt, die typischen Mobilfunk-Signale könnten das interzelluläre Kommunikationssystem im Gehirn stören. Da von Klitzings Untersuchungen aber bislang nicht von anderen Forschern wiederholt werden konnten, fehlen sowohl der wissenschaftliche Beweis als auch geeignete Therapievorschläge. Den behandelnden Ärzten bleibt keine andere Möglichkeit, als dem Kind Schmerzmittel zu verschreiben und abzuwarten.˚

 

Kasten: Anna ist nicht die Einzige in ihrer Familie, die krank geworden ist, nachdem die Sendeanlage 1998 trotz eines abschlägigen Gemeinderatsbeschlusses aufgestellt worden war. Auch ihre Großeltern klagen über Krankheiten, deren Auslöser der Mast auf der Nachbarweide sein soll. Die 55-jährige Helga Schwandt* leidet seit längerem an starken Ekzemen, Schlafstörungen und Ohrensausen. Ihr 62-jähriger Mann bekam im vergangenen Jahr einen Schwächeanfall, der auf eine plötzliche Armut an roten Blutkörperchen zurückgeführt wurde. „Mein Mann hat in seinem ganzen Berufsleben nur einen einzigen Tag gefehlt“, sagt Helga Schwandt. „Die fehlenden Blutkörperchen waren selbst für seine Ärzte ein Rätsel.“

 

Kasten: Schon 1998, als die ersten Symptome auftraten, zog die Familie vor Gericht und verklagte den Betreiber des Handymastes auf Unterlassung. Allerdings ohne Erfolg: Nach zwei Instanzen verlor sie und musste sich den Vorwurf gefallen lassen, sich ihre Krankheiten einzubilden. „Ich finde Handys eigentlich ziemlich praktisch“, sagt Helga Schwandt. „Ich würde mir ja wünschen, die Ärzte fänden eine andere Ursache, aber der Zusammenhang ist mittlerweile eindeutig.“ Das Gerichtsurteil empfindet sie als „ungerecht“. Die selbst erbrachten sowie die ärztlichen Expertisen hätten die Richter nicht anerkannt und stattdessen einen eigenen Gutachter bestellt, der sie bis heute nicht einmal gesehen habe. „Das ist so, als wenn jemand am Telefon diagnostizieren wollte, warum mein Auto nicht anspringt.“ Am liebsten würde Helga Schwandt mit ihrer Familie umziehen – vor allem wegen ihrer Enkelin. „Doch wohin?“, fragt sie. „Wer sagt uns, dass dort, wo wir hinziehen würden, nicht auch eine Sendeanlage aufgestellt wird?“

 

Kasten: JENS UEHLECKE

 

Kasten: * Namen von der Redaktion geändert

 

Grafiken siehe Seiten 26 + 27.

————————————————————————————————

(c) 1993-1996 Die Woche
www.buergerwelle.de