Bürgerschutz am Beispiel

BW: Ein kleines, aber sehr interessantes Beispiel, wie Staat und Industrie durch "Grenzwerte" und "Sicherheitsstandards"

uns Bürger schützt. Nur gut, dass die Mobilfunknormen uns natürlich noch besser und noch sicherer schützen ...

Verdoppelte Buchführung

Durch Sabotage und Fälschungen bei Sicherheitskontrollen verprellte die britische Nuklearfabrik in Sellafield ihre Kunden in aller Welt. Nun droht der umstrittenen Anlage das Aus.

Die vier Scheiben aus Glas sind insgesamt 1,20 Meter dick. Dahinter liegt in der Wiederaufarbeitungsanlage von Sellafield die Kammer, in der verbrauchte Brennstäbe in kleine Stücke gehackt werden. Unter gleißendem, gelblichem Licht befördern mächtige Greifarme den strahlenden Müll anschließend in Säuretanks, in denen Plutonium und Uran zurückgewonnen werden.

Hinter dem Panzerglas lauert die "Bestie", wie ein Arbeiter mit zärtlichem Respekt formuliert. Die radioaktive Strahlung in der Kammer ist so intensiv, dass ein Mensch innerhalb von zwei Minuten eine tödliche Dosis abbekommen würde.

Auf einer elektronischen Anzeigetafel in der Nahe lässt sich ablesen, dass in Sellafield innerhalb eines knappen Jahres 821 Tonnen hochaktiver Strahlenmüll verarbeitet wurden. "Das ist ein neuer Rekord", stellt ein Angestellter stolz fest. "Jetzt sind wir besser als die Franzosen in La Hague." Sein Kollege neben ihm sieht das nüchterner: "Wir können ja auch mal gute Nachrichten gebrauchen - zur Abwechslung."

Für Optimismus gibt es in Sellafield derzeit nicht den geringsten Anlass. Der Betreiber der Anlage, die staatliche "British Nuclear Fuels Limited" (BNFL), erlebt seit einem halben Jahr einen Image-GAU in der größten Krise ihrer Geschichte.

Während Besuchern in Sellafield immer wieder versichert wird, dass "der höchste Sicherheitsstandard absoluten Vorrang" habe, enthüllte die britische Nuklear-Kontrollbehörde einen Abgrund von Schlamperei, Sabotage und Missmanagement.

BNFL-Kunden in Japan, Deutschland, Schweden und der Schweiz, die in Sellafield Atommüll aufarbeiten lassen und Brennelemente für Reaktoren kaufen, haben seit Anfang des Jahres ihre Geschäftsbeziehungen mit der Nuklearfabrik an der Irischen See eingefroren. Auch das US-Energieministerium ist dabei, seine milliardenschweren Verträge mit BNFL zu überprüfen, und die irische Regierung will zusammen mit den skandinavischen Staaten endlich die Schließung der Wiederaufarbeitungsanlage erzwingen.

Die vorerst letzte Katastrophenmeldung:

Die Firmenleitung musste eingestehen, dass sich in der Belegschaft mindestens ein Saboteur verbirgt. Nachdem die Bezahlung von Überstunden gekürzt wurde, kappte ein Arbeiter - vermutlich aus Rache - die Kabel von sechs Robotern in der Anlage zur Einglasung hochradioaktiven Mülls. Doch auch eine Ergreifung des Täters kann den Schaden wohl nicht mehr begrenzen. Eine sichere, wirtschaftliche Zukunft ist für Sellafield kaum noch vorstellbar.

Umgeben von idyllischen Schafweiden und den kargen Bergen der englischen Grafschaft Cumbria, arbeiten rund 10.000 Menschen hinter den mit Nato-Draht bewehrten Eisenzäunen. Seit 1947 mühen sich Wissenschaftler und Ingenieure auf dem über 280 Hektar großen Areal um die Beherrschung der Kernspaltung.

Zunächst waren es britische Atomphysiker, die in den USA beim Bau der ersten Atombomben mitgeholfen hatten, aber dann nach Hause geschickt wurden. In zwei Reaktoren produzierten sie die Spaltstoffe für die Kernwaffen, mit denen Großbritannien den Zutritt in den exklusiven Club der Nuklearmächte erlangte.

Obwohl die beiden Reaktoren nach einem katastrophalen Brand im Jahr 1957 stillgelegt wurden, stehen sie noch heute auf dem Betriebsgelände. Unweit der beiden strahlenden Ruinen arbeitet seit Mitte der fünfziger Jahre Calder Hall, der älteste kommerzielle Atomreaktor der Welt.

Eine lokale Anti-Atomgruppe hat eine schaurige Chronik kompiliert,

die 260 größere und kleinere Sellafield-Unfälle umfasst und zeigt, wie Regierung und BNFL die Störfälle geheim gehalten und ihre Auswirkungen heruntergespielt haben. Und auch die aktuell bekannt gewordenen Schlampereien liegen zum Teil schon Jahre zurück.
Seit 1994 ist in Sellafield eine kleine Pilotanlage zur Herstellung von Mischoxid-Brennelementen aus Uran- und Plutoniumoxid in Betrieb. In ihr kam es zu unglaublichen Verstößen gegen Sicherheitsvorschriften.
Der so genannte Mox-Brennstoff wird zu kleinen walzenförmigen Pellets gepresst, die anschließend in lange metallene Brennstabhüllen gefüllt werden. Nur wenn diese strahlenden Tabletten exakt gefertigt sind, lässt sich der sichere Betrieb eines Reaktors garantieren. Um Ausschuss zu finden, werden die Pellets mit einem Laser-Mikrometer automatisch gemessen. Darüber hinaus - so ist es mit den Kunden vertraglich vereinbart - muss ein kleiner Teil der Pellets nachgemessen werden: ein todlangweiliger Job, vor dem sich die Sellafield-Mitarbeiter drückten, wo es nur ging. Als etwa bei der Erfassung der Messwerte von Brennstäben, die für das Kernkraftwerk Unterweser bei Brake produziert wurden, ein Computer abstürzte, kopierten frustrierte Arbeiter einfach alte Dateien. Bei den meisten der nach Japan verschifften Pellets verzichteten sie vollständig auf Messungen und benutzten ebenfalls alte Daten ein zweites Mal. In anderen Fällen erfanden sie schlicht plausible Zahlenreihen. "Es ist unglaublich", gibt die BNFL-Sprecherin Diane Williams zu. "Es geschah aus purer Langeweile."
Erst im August vorigen Jahres fielen einem Mitarbeiter der Qualitätskontrolle die verdoppelten Messprotokolle auf. Die BNFL stellte eigene Nachforschungen an und unterrichtete Mitte September die Aufsichtsbehörde für Nuklearanlagen Ihrer Majestät.
Deren Experten kommen in ihrem Bericht zu erschreckenden Ergebnissen.
So haben vier von insgesamt fünf Teams ihre Protokolle routinemäßig gefälscht. Die Leiter dieser Arbeitsgruppen hielten es nicht einmal für nötig, einschlägige Sicherheitsvorschriften auch nur zu lesen.

Das Management feuerte vier Mitarbeiter wegen systematischen Datenbetrugs, im Februar wurde auch der Hauptgeschäftsführer John Taylor zum Rücktritt genötigt. Ein weiteres Opfer der peinlichen Schlampereien sind auch Labours Privatisierungspläne für den Staatsbetrieb. Die Regierung wollte 49 Prozent der Firma verkaufen und damit bis zu fünf Milliarden Mark erlösen. Jetzt muss sie die Entstaatlichung mindestens bis 2002 verschieben - falls dann die Wiederaufarbeitungsanlage überhaupt noch in Betrieb ist.

Die japanischen Geschäftspartner der BNFL, die zunächst falsch, dann nur zögerlich über die Manipulationen informiert wurden, bestehen nun auf der Rückführung von Brennelementen mit gefälschten Protokollen. Da die Nukleartransporte Marineeskorten brauchen, wird die Rücknahme zu einem äußerst kostspieligen Unterfangen. Das Handelsministerium in Tokio erließ zudem einen Importstopp für britischen Mox-Brennstoff.

Auch PreussenElektra und dem deutschen Umweltministerium sind wortreiche Entschuldigungen nicht genug. Bei einem Besuch von BNFL-Emissären im Bonner Umweltministerium Mitte März erklärten die deutschen Ministerialen den Briten, dass man sich erst dann weiter unterhalten könne, wenn die britische Aufsichtsbehörde ein neues Sicherheitsregime überprüft und für ausreichend befunden hat.

"Im Augenblick stehen ohnehin keine neuen Lieferungen an", sagt der für Reaktorsicherheit zuständige Abteilungsleiter Peter Manning, "und in der Zukunft sieht es für BNFL eher düster aus."

Denn die deutschen Energieversorger haben sich von der Wiederaufarbeitung, die rund doppelt so teuer ist wie eine Zwischen- und Endlagerung der verbrauchten Brennstäbe, ohnehin verabschiedet. Und PreussenElektra, wichtigster BNFL-Kunde in Deutschland, kommt der Skandal durchaus gelegen, um aus bereits abgeschlossenen Verträgen für eine Wiederaufarbeitung herauszukommen.

Die Briten dagegen, die bis vor wenigen Jahren Ökologie und Umweltschutz als kontinentaleuropäische Marotte abgetan haben, scheinen den geplanten deutschen Ausstieg aus der Atomenergie überhaupt noch nicht wahrgenommen zu haben. Obgleich Tony Blair und seine Regierung unermüdlich etwa das Internet oder die Gentechnik als Zukunftsbranchen preisen, haben sie noch nicht gewagt, sich von technischen Dinosauriern wie der Nuklearanlage von Sellafield zu verabschieden.

Dabei ist Sellafield für die Regierung in London ein zuverlässiger Lieferant diplomatischer Querelen, die das Image Großbritanniens als "Dirty old man of Europe" konservieren. Da die BNFL seit Jahrzehnten radioaktive Abwässer einfach in die Irische See pumpt, fordern die Regierungen in Dublin und in Skandinavien die Stilliegung der Plutoniumküche. Am Dienstag voriger Woche besuchte der dänische Umweltminister den irischen Energieminister, um zu prüfen, ob sie eine Schließung mit Rechtsmitteln durchsetzen können.

Gleichzeitig wächst auch im eigenen Land der Druck, aus der kostspieligen Wiederaufarbeitung auszusteigen. Der Stromkonzern British Energy, der 16 Atomreaktoren auf der Insel betreibt und ein Drittel der BNFL-Aufträge zur Wiederaufarbeitung erteilt, will künftig aus Kostengründen Nuklearabfälle nur noch einlagern.

Gordon MacKerron, der Leiter des Nuklearprogramms der Universität von Sussex, verlangt, dass "die Regierung nicht länger den Kopf in den Sand stecken" dürfe. Doch aus Sorge um die von Sellafield abhängigen Arbeitsplätze in der entlegenen Region beschränkte sich Tony Blair darauf, der BNFL einen lapidaren Rat zu erteilen. Die Schluderfirma solle endlich "ihr Haus in Ordnung bringen".

Deren Aufsichtsratsvorsitzender Hugh Collum hält nun sogar das Ende der Wiederaufarbeitung für möglich. "Wir müssen in der Lage sein", erklärt er vorigen Donnerstag einem Unterhaus-Komitee, "das Undenkbare zu denken."

Der Spiegel 14/2000 / michael sontheimer