Kommentar der BW: eines von inzwischen unzähligen Beispielen, wie offenbar ein Sumpf aus Wirtschaft, Politik und bezahlter Wissenschaft die Bürger betrügt und belügt um unerwünschte, lebensbedrohliche Nebenwirkungen oder Gefahren von Hauptumsatzträgern zu verharmlosen. Wir können nur froh sein, dass das natürlich in Sachen Mobilfunk völlig anders ist! Andererseits fallen uns bei jedem Punkt unglaubliche Parallelen zur europäischen Mobilfunkdiskussion auf - selbst die politische Behandlung der berüchtigten bayerischen "Mobilfunk-Rinderstudie" kann man hier perfekt beschrieben wiedererkennen...
SZ vom 23. 10. 2000, Nachrichten
Risiko Rinderwahn: Fälschung statt Forschung

Um ihre BSE-Politik zu rechtfertigen, manipulierten britische Politiker wissenschaftliche Studien / von Von Holger Wormer
 
Über Nacht waren alle britischen BSE-Experten spurlos verschwunden. Als der damalige britische Landwirtschaftsminister Douglas Hogg am nächsten Nachmittag erstmals zugab, die Rinderseuche könne auf den Menschen übertragen werden, begannen die übrigen Teilnehmer einer internationalen Tagung zur Rinderseuche im März 1996 den Grund zu ahnen.

Wegen des Geständnisses hatten anscheinend alle britischen Wissenschaftler die Order erhalten, in ihre Heimat zurückzukehren und ihre Forschungs-Resultate vorerst nicht international zugänglich zu machen.

Die Öffentlichkeit wurde getäuscht
Der Fall ist nur ein Beispiel für den Versuch der ehemaligen britischen Regierung, die Öffentlichkeit zu täuschen und das BSE-Risiko herunterzuspielen. Zu diesem Schluss kommt die Münchner Wissenschaftlerin Kerstin Dressel in einer detaillierten Untersuchung des Falls.

Drei Jahre lang hat die Soziologin unter anderem am Lehrstuhl von Ulrich Beck an der Universität München in über 50 Experten-Interviews Minister, Politiker, Beamte und Wissenschaftler aus Großbritannien und Deutschland befragt. Auf dieser Grundlage zeichnet sie ein genaues Bild der politischen Vorgänge von der Entdeckung der Rinderseuche Mitte der achtziger Jahre bis zum Jahr 1996.

In Großbritannien wird die weitgehend anonymisierte Studie als ähnlich brisant eingeschätzt wie der Bericht der vom britischen Premierminister Tony Blair eingesetzten Untersuchungskommission (Phillips-Inquiry), der am Donnerstag veröffentlicht werden soll.

Expertengremium ohne Experten
Bereits die Bildung des ersten wissenschaftlichen BSE-Beratergremiums im Frühjahr 1988 zeigt der deutschen Studie zufolge, wie wenig es der Thatcher-Regierung um eine wissenschaftliche Aufklärung der Seuche ging: Anfang April erhielt Richard Southwood von der Universität Oxford einen Anruf des "Chief Medical Officer" der Regierung. Southwood sagte in dem Gespräch zu, den Vorsitz einer Beraterkommission zu übernehmen. Dabei war er zwar ein anerkannter Ökologe, doch von BSE-Erkrankungen verstand er äußerst wenig - ebenso wenig wie die weiteren Mitglieder des Gremiums.

Keiner der von Dressel befragten Berater hielt sich selbst für einen Fachmann auf dem Gebiet: Die Regierung hatte eine Expertenkommission ohne Experten gebildet. Erst Jahre später wurden wichtige BSE-Forscher in den Kreis aufgenommen.

Zahlreiche Hinweise auf Zensur und Drohungen
Das fehlende Know-How erleichterte es Politikern, Einfluss auf die Empfehlungen der Kommission zu nehmen. So fand Dressel zahlreiche Hinweise darauf, dass der von der Regierung im Februar 1989 veröffentlichte "Southwood-Report" in den Ministerien zensiert wurde. Ein führendes Mitglied des Gremiums gibt zu Protokoll: "Ein früherer Minister hat mir angedeutet, dass unser Report ... in den Müll gefegt worden wäre, wenn wir alarmierender gewesen wären; mit dem Ergebnis, dass man gar nichts unternommen hätte."

Politiker und Beamte schreckten auch nicht davor zurück, den Forschern mit negativen Konsequenzen für ihre weitere wissenschaftliche Laufbahn zu drohen. "Unsere Karrieren hingen davon ab", berichtet ein Mitglied des Beratergremiums aus dem Jahr 1996.

Politische Entscheidungen mit wissenschaftlichem Anstrich
"Oft haben die Forschergremien der Regierung nur dazu gedient, zuvor intern getroffenen politischen Entscheidungen einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben", sagt Dressel. Viele Berichte wurden mit monatelanger Verspätung veröffentlicht und auch noch von der Regierung zitiert, wenn sie längst überholt waren.

Doch auch einige Wissenschaftler nahmen es mit der Wahrheit nicht immer genau, wie Dressel belegt. Demnach hatten Forscher der Überwachungseinheit für die mit dem Rinderwahnsinn verwandte Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (CJK) dem Gesundheitsministerium bereits im Januar 1996 mitgeteilt, dass es mehrere neue CJK-Patienten gab. Dennoch erklärte der Leiter der Forschergruppe, Robert Will, noch einen Monat später öffentlich, es gebe keine derartigen Veränderungen bei CJK-Fällen.

Viele Fragen wurden erst gar nicht untersucht
Viele Fragen wurden erst gar nicht untersucht. Obwohl das Landwirtschaftsministerium über 50 Millionen Pfund dafür ausgab, habe das Ministerium die wichtigste Forschung ausgelassen, kritisiert ein Wissenschaftler in Dressels Arbeit. "Sie waren in der Lage, zwei Fragen zu beantworten, die jeder hätte beantworten können: Wie viele Kühe sind an BSE gestorben und wie viele Menschen sind gestorben? Aber wenn man gefragt hätte: Woher kommt die Krankheit? Wie lässt sie sich vermeiden?... Dem haben sie sich nie zugewandt", kritisiert er.

Dennoch berief sich die Regierung immer auf "den besten wissenschaftlichen Rat". Dabei war es fast nur vom Landwirtschaftsministerium selektierten Wissenschaftlern überhaupt möglich, an der Krankheit zu forschen, schildert Dressel. Jede BSE-Kuh war Eigentum des Ministeriums. Anfragen ausländischer Wissenschaftler nach Proben-Material wurden meist abgewiesen. Und jene auserwählten Briten, die forschen durften, unterlagen der Zensur: "Forscher waren nicht frei, anderen Forschern zu berichten, bevor nicht alles erschöpfend von Beamten jeder Art inspiziert worden waren", zitiert Dressel einen von mehreren Experten.

Fehler im System
Allerdings mache man es sich zu einfach, wenn man den Fall allein als bewusste Täuschung durch die Regierung betrachte, sagt Dressel. "Ich habe den Eindruck, dass sie sich selbst erfolgreich eingeredet haben, es gebe kein Risiko", glaubt ein Wissenschaftler. Neben der Verdrängung, so Dressel, ließe sich vieles durch kulturelle Eigenarten des Systems in Großbritannien erklären. Die Auswahl der "Großen und Guten" etwa anstelle der wirklichen Fachleute für eine Kommission sei typisch. Auch das Machtmonopol des Landwirtschaftsministeriums, das selbst das Gesundheitsressort weitgehend auschließen konnte, und der unter Thatcher gestärkte Einfluss hoher Beamten, habe einen offenen Umgang mit BSE verhindert.

Als fatal erwies sich auch der ausgeprägte Glaube unter Thatcher, die Industrie werde schon wissen, was zu tun sei. So wurde etwa die Anordnung aus dem Jahr 1989, Hochrisiko-Gewebe wie Gehirn und Rückenmark bei der Schlachtung zu entfernen, bis 1995 nur sehr lückenhaft umgesetzt. Die Regierung hatte auf ausreichende Kontrollen verzichtet. Mehr als fünf Jahre ist daher den Aussagen britischer Berater zufolge unnötigerweise Hochrisikogewebe weiter in die Nahrung gelangt. Auf keinen Fall reiche es daher aus, wenn nun nach der Phillips Inquiry nur einige Hauptschuldigen an den Pranger gestellt würden, glaubt Dressel: "Der Fehler liegt auch im System."

"Es war ein Fehler, das Embargo für britisches Rindfleisch aufzuheben"
Tatsächlich berichten deutsche Forsscher bis heute von Schwierigkeiten, Proben aus Großbritannien zu bekommen. Dabei gibt es genug offene Fragen. Niemand weiß etwa, wie viele zu den über 80 BSE-Opfern beim Menschen noch hinzukommen. Oder wie hoch das Risiko einer Infektion über verseuchte Blutprodukte oder Impfstoffe ist. Da sich an der politischen Kultur im Umgang mit der Seuche trotz Blairs Versprechen bis heute wenig geändert habe, sei es auch ein Fehler gewesen, das Embargo für britisches Rindfleisch aufzuheben, ist Dressel überzeugt: "Der Fall BSE ist noch nicht vorbei."
 
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